Alle reden vom Klimawandel, vergessen geht dabei die Artenvielfalt, obschon diese unsere Ernährung sichert und damit auch den Fortbestand der menschlichen Spezies. Der Artenschwund kann aufgehalten werden. Dafür müssen wir aber unser Verhalten ändern.
Über den Klimawandel verlieren Medienschaffende viele Worte, berichten aber kaum über die Konsequenzen der schwindenden Biodiversität. Dabei bildet das ökologische Lebensnetzwerk unsere Lebensgrundlage. Das leuchtet nicht allen Menschen ein, denn aussterbende Pflanzen und Tiere haben keine unmittelbaren sicht- oder spürbaren Auswirkungen auf ihren Alltag. Viele unterschätzen deshalb das Biodiversitäts-Risiko sagt die Biologin und Buchautorin Frauke Fischer und verdeutlicht das an einem Beispiel: «Sitzen wir in einem Flugzeug und bemerken, wie sich eine Niete nach der anderen von der Tragfläche löst, sind wir anfangs kaum besorgt. Löst sich aber eine zu viel, stürzt das Flugzeug ab.» Ein weiteres Beispiel der Auswirkungen des Artenschwunds nennt Niels Friedrich, Geschäftsführer der Stiftung Pro Artenvielfalt: «In den 1950-Jahren rottete die chinesische Regierung alle Spatzen aus. Damit entfielen die natürlichen Fressfeinde der landwirtschaftlichen Schädlinge. Diese wiederum fielen über das Getreide her, weshalb es zu grossen Ernteausfällen kam und viele Menschen verhungerten.»
Die Artenvielfalt ist nicht nur in China, sondern auch in der Schweiz unter «Beschuss»: Rund 14 von 20 Amphibienarten stehen auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten, 45 Prozent aller Wildbienen sind in der Schweiz gefährdet oder ausgestorben. Zu den gefährdeten Tieren gehört mittlerweile sogar der Igel. Das liegt an der Zerstörung seines Habitats. So ist gemäss einer Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landwirtschaft (WSL) in den vergangenen hundert Jahren allein im Kanton Schaffhausen jedes Jahr eine Pflanzenart verschwunden. Zwar gibt es noch einige davon in der übrigen Schweiz, ihr Lebensraum schrumpfte im selben Zeitraum aber um bis zu 90 Prozent. Seit 1900 verschwand eine Fläche von rund 7’594 km2 an Trockenwiesen, Auen und Mooren. Diese Entwicklung geht ungedämpft weiter: «Täglich werden in der Schweiz rund acht Fussballfelder Land verbaut», sagt Nathalie Rutz, Mediensprecherin von Pro Natura. Während immer mehr Land unter Beton verschwindet, drängt der Mensch in die übrigen, noch relativ intakten Lebensräume, ergänzt Friedrich. Beispielsweise in höher gelegenen Orte in den Alpen zum Skifahren, weil der Schnee woanders immer häufiger ausbleibt. So würden gefährdete Tierarten auch an bisher vom Tourismus unberührten Orten immer mehr bedrängt. Etwa das Alpenschneehuhn, das aufgrund der Klimaerwärmung in höhere Lagen floh und durch die menschlichen Aktivitäten fast keine Ausweichmöglichkeiten mehr hat.
Genug ist genug
«Keiner weiss, wie viele Arten wir noch auslöschen können, bis die Ökosysteme kollabieren und wir Menschen unsere Lebensgrundlage verlieren», sagen Friedrich und Fischer. Klar ist für beide jedoch: «Die Biodiversität ist unsere Lebensversicherung.» Eines der Grundübel ist für Friedrich die Annahme, dass uns das Geld ernährt und nicht die Natur. Dennoch ist der Kapitalismus für ihn nicht die Ursache der Artenvielfalt-Misere, sondern die Profitgier mancher Energiewende-Akteure: «Viele wollen möglichst viel Gewinn mit der klimatischen Veränderung machen und klammern die Artenvielfalt dabei aus.» Das führt zu absurden Situationen. Ein Beispiel? «Was nützt es, wenn wir die Natur durch die Rohstoffausbeutung in anderen Ländern mit den Füssen treten, um in Zürich elektrisch durch die Gegend zu fahren oder Wälder für Windräder roden, um damit unsere Smartphones zu laden oder unsere Wohnungen zu heizen?» Wirklich unbequeme Wahrheiten, die Antworten erfordern.
Weniger Arbeit durch Artenvielfalt
Häufig meinen Menschen: «Ich kann ja sowieso nichts machen.» Diese vermeintliche Resignation ist für Friedrich wie auch für Fischer eine verdeckte Ausrede: «Jede und Jeder kann etwas unternehmen.» Oft seien es kleine Dinge, die in der Summe Grosses bewirken, sagt Friedrich. «Wer seine Zigarettenstummel beispielsweise nicht in den Abfluss wirft, sondern ordentlich entsorgt, vergiftet ausser sich selbst niemanden.» Andere wegen eines «Fehlverhaltens zu beschuldigen», ist für Friedrich nicht zielführend: «Es bringt nichts, mit dem Finger auf Menschen zu zeigen und ihnen zu sagen, was sie alles falsch machen. Das demotiviert.» Deshalb stosse er in der Kaffeepause lieber auf die Bienen an und erwähne, dass es ohne sie keinen bezahlbaren Kaffee gebe oder empfehle seinen Gesprächspartnerinnen und -partnern Unterschlupfmöglichkeiten für Mauersegler zu schaffen, da diese Fluginsekten und somit auch die aus Südostasien eingewanderten krankheitsverbreitenden Tigermücken fressen.
Arten zu schützen bedeutet nicht immer, auf etwas zu verzichten. Liessen Hausbesitzer ihre Rasenmähroboter tags und nachts nicht mehr unbeaufsichtigt, pflanzten heimische Pflanzen, schufen Unterschlupf für Insekten und liessen Blühstreifen stehen, gäbe es kaum verletzte oder hungernde Igel. «So könnte sich deren Population erholen.» Nicht nur Tiere und Pflanzen profitieren von diesem Nichtstun: Für den Menschen verringert sich der Arbeitsaufwand. Hausbesitzende schämen sich jedoch oft für einen «puffigen Garten.» Doch genau in diesen «verwilderten» Gärten finden Pflanzen und Tiere ihre Nischen. Das entgeht Friedrich nicht: «Im Elsass beobachtete ich in einem löchrigen Wohnwagen einen Steinkauz und in einem naturbelassenen Garten in Weil eine brütende Dorngrasmücke.»
Nichts tun, statt sich zu überarbeiten
Steingärten und versiegelte Vorplätze vermindern nicht nur die Artenvielfalt, sondern sind wegen der zunehmenden Starkregen auch ein Umweltproblem, ergänzt Fischer. «Dadurch kommt es dadurch zum raschen Wasserabfluss, was zu Überschwemmungen führt. Die Kanalisationen sind nicht auf solche Wassermengen ausgelegt.» Von einem freiwilligen Umdenken ist aber nicht auszugehen. Deshalb haben einige Gemeinden wie Langendorf und Grenchen (So) oder Steffisburg (Be) Steingärten bereits verboten. Doch braucht es noch mehr Zwang, um Umweltschäden zu verhindern und die Biodiversität zu fördern? Pro Natura setzt dafür vor allem auf Aufklärung: «Vielen ist nicht bewusst, weshalb Steingärten die Artenvielfalt verringern, was Neophyten sind und weshalb man Blumenwiesen nur zwei Mal im Jahr mähen sollte», sagt Rutz. Zerstöre die Handlung vieler Einzelpersonen ein Allgemeingut, sei ein Verbot jedoch zwingend. So etwa im Kanton Aargau beim Hallwilersee, wo Stand-Up-Paddlern seit kurzem verboten wurde, die Auen zu befahren. Das, weil der Lebensraum durch die zunehmende Zahl an Freizeitsportlern teilweise stark geschädigt wurde. Damit die Menschen Vorschriften und Verbote nicht als lästig und einschränkend wahrnehmen, müssten diese jedoch nachvollziehbar erklärt werden. Ein Vorgehen, das Friedrich befürwortet: «Wer es dann immer noch nicht versteht, sollte aber gebüsst werden.»
Statt etwas zu verbieten, könne man erwünschtes Verhalten wie in der Landwirtschaft finanziell fördern, sagt Friedrich: «Vermutlich schützen die wenigsten Landwirte Bodenbrüter wie die Feldlerche aus Überzeugung, sondern wegen der Direktzahlungen. Genauso könnte man bei privaten Grundstücksbesitzenden vorgehen: Wer in seinem Garten heimische Pflanzen- und Tierarten fördert, wird finanziell entlastet, Steingarten-Besitzer dagegen besteuert. Die daraus resultierenden Mehreinnahmen könnten dann andernorts für biodiversitätsfördernde Strukturen eingesetzt werden.» Dass die Artenvielfalt vermehrt in Dörfern und Städten gefördert werden sollte, ist für Friedrich naheliegend: «Die Kulturlandschaft haben wir schon ausgeräumt. Es ist deshalb unsere Pflicht, Dörfer und Städte naturnah zu gestalten. Das beginnt bereits bei der Gebäudeplanung.» Das schliesse nicht aus, die Kulturlandschaft zu revitalisieren, ergänzt Rutz. «Um die Artenvielfalt zu retten, braucht es einen «gesamtgesellschaftlichen Effort auf dem Land und in der Stadt.»
Falsche Subventionsanreize mindern
Zur Biodiversitätskrise tragen verschiedene Faktoren bei. Dazu zählen nebst der intensiven Landwirtschaft, der Verbauung und der menschlichen Aktivitäten in bisher fast unberührten Gegenden auch der Konsum. Was billig ist, hat anderswo Auswirkungen. Das Argument «Ich kann mir nichts anderes leisten», lässt Fischer nicht gelten: «Mit jedem Tag, an dem wir uns nicht engagieren, wird es teurer. Nicht nur Schokolade, auch viele Obstsorten könnten bald wieder zum Luxusprodukt werden, weil es kaum noch natürliche Bestäuber gibt.» Angesichts unseres verschwenderischen Lebensstils gäbe es genügend Einsparmöglichkeiten, findet Friedrich. «Wir leisten uns heute den Luxus, Lebensmittel tonnenweise wegzuwerfen. Somit können wir es uns auch leisten, mehr dafür zu bezahlen.» Der umweltschädigende Verbrauch wird teils sogar staatlich gefördert. Beispielsweise vom Fleisch. Obschon jährlich pro Person rekordhohe Mengen von 51 Kilogramm gekauft werden, subventioniert der Bund diesen weiterhin mit 12.4 Millionen Franken pro Jahr. Die Kosten der dadurch entstehenden Umweltschäden wie der hohen Nitratbelastung des Trinkwassers oder die zunehmenden Antibiotika-Resistenzen trägt die Allgemeinheit. Es sind nicht die einzigen umweltschädlichen Subventionen. Deshalb fordert Pro Natura, alle auf ihre Wirkung auf die Natur und das Klima zu prüfen und umweltschädigende abzuschaffen. Dazu habe sich die Schweiz 2010 mit dem internationalen Biodiversitätsabkommen verpflichtet, was 2012 in der nationalen Biodiversitätsstrategie niedergeschrieben wurde, sagt Rutz. «Seither ist leider nicht viel passiert.»
Subventionen verbilligen umweltschädliche Produkte. Doch was, wenn die Umweltschäden bereits in den Preisen enthalten wären? «Das würde helfen», meinen Friedrich und Fischer, denn höhere Preise verändern auch das Verhalten der Konsumentinnen und Konsumenten. Tel quel alles zu verteuern, ist für Pro Natura aber nicht ausreichend: «Gleichzeitig müssen wir umweltfreundliche Produkte fördern, um sie für alle erschwinglich zu machen.» Dadurch verschwänden umweltschädigende teure Produkte bald vom Markt, sind sich alle einig. Für Fischer eine absolute Notwendigkeit. «Wir können noch eine Weile so weitermachen wie bisher. Die Auswirkungen werden aber immer schlimmer. Die Natur ist keine Verhandlungspartnerin. Wenn wir das nicht verstehen, beschleunigt das unseren Niedergang. Wir können nicht gegen die Naturgesetze arbeiten.»
Buchtipps Natur schaffen
Wie sich die Biodiversität in der Schweiz fördern lässt, ist vielschichtig. Der Geograf und Biologe Gregor Klaus und der freischaffende Journalist Nicolas Gattlen entwickelten hierzu verschiedene Checklisten, die kostenlos heruntergeladen werden können und im Buch Natur schaffen (Gregor Klaus, Nicolas Gattlen - Erste Auflage 2016, 304 Seiten, Haupt Verlag) enthalten sind.
Was hat die Mücke je für uns getan
Was kümmert es uns, wenn in Brasilien eine Art verschwindet, von deren Existenz wir nichts wussten? Wäre es nicht fantastisch, wenn die Mücke ausstürbe? Ganz und gar nicht: Die Natur ist ein Netzwerk, in der jeder Organismus eine Rolle spielt. Keine Art existiert unabhängig von den anderen. Menschen sind keine Ausnahme. Ohne Artenvielfalt können wir nicht überleben. Was unser tägliches Leben mit Biodiversität zu tun hat, zeigen Frauke Fischer und Hilke Oberhansberg in ihrem Buch «Was hat die Mücke je für uns getan?» («Was hat die Mücke je für uns getan», Frauke Fischer, Hilke Oberhansberg, 2021, Oekom Verlag, 222 Seiten.)
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